Matthias Hauer MdB

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© Mike Henning

Rettung aus Afghanistan

Matthias Hauer MdB zur Situation in Afghanistan:

„Die Situation der Menschen in Afghanistan bewegt mich zutiefst. Die Taliban beherrschen mittlerweile sogar die Hauptstadt Kabul. Hunderte Deutsche sitzen dort fest, aber auch tausende Ortskräfte brauchen unsere Hilfe. Am Nordeingang des Flughafens, an dem die Deutschen evakuiert werden sollen, versperren Menschenmassen den Zugang, wird scharf geschossen und Tränengas versprüht. Nicht einmal der deutsche Pass ermöglicht den Zugang zum Flughafen. Unzählige Menschen sind verzweifelt.

In den letzten Tagen habe ich mit vielen Essener Bürgerinnen und Bürgern gesprochen, die sich in Kabul versteckt halten, am Nordeingang ausharren, die Ausreise geschafft haben oder sich aus Deutschland um Freunde und Verwandte dort sorgen. Ihre Schicksale sind sehr berührend.
Beispielsweise das Schicksal der jungen Sonia aus Frohnhausen: Gemeinsam mit ihrer 6-jährigen (deutschen) Tochter reiste die Essenerin zu ihrer an Krebs erkrankten Mutter. Wegen des schnellen Vorrückens der Taliban steckte sie plötzlich in Kabul fest. Ihre Arbeitskollegen kontaktierten mich, sodass wir sie mit vereinten Kräften bei der Ausreise unterstützen und den Weg zur Sammelstelle am Flughafen mitteilen konnten. Vorgestern landete sie in Deutschland. Ich habe sie, ihre Tochter und ihre Arbeitskollegen direkt besucht und mir von ihrer Situation und der Lage vor Ort berichten lassen. Das aufgeweckte Mädchen hatte nun gestern ihren (verspäteten) ersten Schultag – stolz zeigte sie uns ihre Schulsachen.

Oder das Schicksal des Anfang 60-jährigen Deutschen aus Wasserturm: Er wurde vom Auswärtigen Amt zum Nordeingang des Flughafens gelotst und musste dort einen ganzen Tag und eine Nacht ausharren, bis er endlich Zugang zum Flughafen erhielt. Anderthalb Tage lang gab es keinen Landsleutebrief des Auswärtigen Amtes, sodass Unklarheit herrschte, wann der Zugang möglich ist und wann nicht. Wir standen in ständigem Kontakt. Auch er schaffte es ins Flugzeug und landete vorgestern in Frankfurt. Er besuchte mich noch am selben Tag abends in meinem Essener Büro und wir haben unsere Informationen zur aktuellen Lage vor Ort ausgetauscht. Gemeinsam mit ihm haben mein Büroteam und ich dann versucht, auch für weitere Essener vor Ort etwas zu erreichen.

Besonders dramatisch ist die Lage derzeit für ein Essener Ehepaar. Der Deutsche und seine afghanische Ehefrau sind mit ihrem Säugling (3 Wochen) und ihrem 2-jährigen Kind in Kabul. Als sie es zum Nordeingang geschafft haben, mussten sie zurück in ihr Versteck, weil sie mit Tränengas angegriffen wurden. Auch das Vorzeigen der deutschen Pässe konnte das US-Militär am Eingang nicht dazu bringen, der Familie den Einlass zum Inneren des Flughafens zu gewähren. Die Familie sandte mir ein Video, das die Situation zeigt, während im Hintergrund ständig Schüsse fallen. Sofort habe ich die Krisenhotline des Auswärtigen Amtes informiert, dass diese Familie sofortigen Einlass benötigt. Nach 14 Anrufversuchen und anschließend 30 Minuten in der Warteschleife erhielt ich die Antwort: Sie seien als Deutsche ohnehin schon privilegiert und man könne für sie nichts tun. Unfassbar. Ich habe das Schicksal der Familie in der Sondersitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion angesprochen und appelliert, dass wir dafür sorgen müssen, alle unsere Staatsangehörigen zeitnah rauszuholen. Die Verteidigungsministerin erhielt von mir die Daten der Essener und versprach, alles zu versuchen, um ihnen zu helfen. Weiteres habe ich dann mit ihrem Leitungsstab besprochen. Ich hoffe nun, dass schnell eine Lösung für die Familie gefunden wird und bin mit ihnen zum Informationsaustausch weiter in Kontakt.

Mit Familie Ataie sind fünf weitere Deutsche aus Essen in Kabul. Mit Isa Ataie und Essener Freunden der Familie stehe ich seit Tagen in ständigem Kontakt, nachdem ich auf ihren Hilferuf via Instagram aufmerksam gemacht wurde. Wir tauschen uns seitdem über die jeweils aktuelle Lage am Flughafen aus und stellen den Informationsfluss sicher. Mehrmals mussten sie in ein Versteck zurückkehren, weil Taliban ihnen den Zugang versperrten oder die chaotische Lage am Flughafen kein Durchkommen ermöglichte. Auch in dieser Nacht ist der Nordeingang geschlossen. Familie Ataie benötigt ebenfalls dringend Einlass zum Flughafen. Um gezielt im Stadtgebiet festsitzende Personen bzw. Personengruppen zum Flughafen bringen zu können, hat die Bundeswehr nun auch zwei kleine, besonders bewegliche KSK-Hubschrauber nach Kabul verlegt.

Dies sind nur einige der Essener Fälle. Mein Büroteam und ich bleiben auch an den anderen Fällen dran. Die chaotischen Verhältnisse am Nordeingang sind derzeit das Nadelöhr bei der Rettung der Deutschen aus Kabul. Auch diejenigen, die für Bundeswehr etc. über Jahre vor Ort gearbeitet haben, dürfen wir nicht der Willkür der Taliban überlassen. Gleiches gilt gerade auch für engagierte Frauen, die sich exponiert haben und deshalb nun besonders bedroht sind. Dringender Verbesserungsbedarf besteht bei der mangelhaften Kommunikation durch das Auswärtige Amt.

Wenn die Rettung der Menschen erfolgt ist, stellen sich natürlich weitere Fragen. Es ist aufzuarbeiten, wieso kein Staat das derart schnelle Vorrücken der Taliban vorhergesehen hat – nicht einmal die bestens vernetzten USA. Auch die verfehlten Erwartungen an den Einsatz und die völlige Abhängigkeit dabei von den USA bedürfen einer tiefgreifenden Erörterung. 20 Jahre Schulbildung für Mädchen und mehr Freiheiten waren erfolgreich, Demokratisierung und Bekämpfung des Terrors an der Wurzel hingegen nicht. Die Amerikaner haben den internationalen Abzug eingeleitet und sind es auch derzeit, ohne die am Flughafen überhaupt keine Evakuierung denkbar wäre.

Abschließend danke ich allen Soldatinnen und Soldaten, die in diesem gefährlichen Einsatz derzeit Dienst tun und all denjenigen, die dafür sorgen, die Not der Menschen vor Ort zu lindern. Ich wünsche den Afghaninnen und Afghanen für Ihr Land eine gute Zukunft – auch wenn mich die aktuellen Entwicklungen alles andere als positiv stimmen.“